SCHRÄGE STATIONEN

Zwei Uraufführungen in Frankfurt an der Oder

Heinrich von Kleists 220sten Geburtstag feierte das Kleist-Theater in Frankfurt an der Oder innerhalb der 7. Kleisttage 1997 mit einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm, dessen Höhepunkt zwei Uraufführungen werden sollten. Zur Eröffnung erlebte das Stück NACHKLANG vom Guido Koster, ersten Preisträger des Kleistförderpreises für junge Dramatiker des Jahres 1996 seine Premiere. Damit soll eine neue Tradition begründet, ein Forum für junge, lebende Dramatiker geschaffen werden, eine Art Rehabilitierungsversuch des Theaters, im Gegensatz zu dem seinerzeit gröblichst mißachteten Kleist. Für diesen höchst ehrenwerten Vorsatz des Kleist-Theaters wird sicher Ausdauer nötig sein, weil Rückschläge dabei unvermeidlich sind.

Guido Kosters NACHKLANG des ausgehenden Jahrhunderts führt nach 1990 in einer Wartehalle eines maroden Bahnhofs im Osten des Landes vier Reisende und den Kofferaufbewahrer Franz zusammen. Das paradoxe Konstukt des Stücks in Taboris Manier, daß die Fahrgäste hier irgendwie angekommen sein müssen, aber am Bahnhof keine Züge mehr halten, erklärt sich genauso wenig wie die Figuren des in Trier 1962 geborenen Autors, die befremdliche ungefähre Geschichten ihrer vorgeblichen Biographien einander erzählen. Sind sie aus fahrenden Zügen der Geschichte geworfen, sind sie Aussteiger während der Fahrt, ist ihre Absicht, wieder einzusteigen, ernst zu nehmen oder nur Selbsttäuschung? Antworten sind während der pausenlosen Aufführung verschiedene zu erhalten, aber Mißklänge bleiben, da Kosters Symbole sich nicht restlos entschlüsseln.

Mit der Inszenierung des handlungsarmen Spiels und der verkorksten Figuren durch Michael Funke stellt sich das Kleist-Theater eine enorm schwere Aufgabe. Funke treibt seine Spieler in die Aktion, läßt die wartenden Figuren ständig agieren, sie laufen durch den Raum, fallen oder klammern sich aneinander. Doch er kann sie kaum handeln lassen, die blutarme Vorlage Kosters füllen. Sie bleiben Gespenster einer vergangenen Zeit und zertrampeln bei Funke unentwegt ihre dünne Schicht Philosophie.
Martin Fischer schuf als Bühnenbild ein herrlich verkommenen schrägen Wartesaal, an dessen großen, blinden Fenstern eindrucksvoll Fernzüge zuweilen vorbeidonnern. Der Clou seines Raumes, der offensichtlich umgekippt ist, der Boden ist zur Decke geworden und umgekehrt, bewirkt, daß die Darsteller in der Decke brillant klettern, rutschen und sich nicht recht einrichten können, verbraucht sich aber, weil er außer den umgestürzten Verhältnissen nicht mehr erzählt und die Figuren insofern schwächt, da sie es partu nicht bemerken. Die Kostüme Andrea Eisensee versuchen behutsam, die Figuren sozial zu charakterisieren und tragen erfolgreich zur ihrer Beglaubigung bei.

Mit hohem Engagement spielt das kleine Ensemble die schwierigen und brüchigen Figuren zwischen Komik und Tragik, ohne daß jedoch aus Kosters Brüchen eine tiefere Erkenntnis wächst. Horst Damm setzt seinen Kofferaufbewahrer Franz auf das vierzigjährigen Gleis täglicher Routine, läßt selbst die Versteigerung des Inventars seines Bahnhofs und den Verlust seiner stummen Frau mit komischer, fast stoischer Gelassenheit über sich ergehen. Den Lion spielt Lutz Günzel als nobel - zurückhaltenden Grand Senior, dessen fünfzigjährige Leidensgeschichte als aus Deutschland vertriebener Jude und mit einem Koffer Liebesbriefe aus Argentinien heimkehrender verhinderter Liebhaber höchst subtil glaubhaft wird. Barbara Teuber gibt die aufgedrehte Veza als notgeile Alte, balanciert ihre Figur zwischen zärtlicher Liebessehnsucht und grober Niedertracht, wenn sie nicht im Mittelpunkt allgemeinen Interesses steht. Die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen ihr und Lion allerdings, von den anderen Figuren ständig unterbrochen, geriet vielleicht etwas grob. Die Figur des Opportunisten Ognew findet in Rolf Günther einen verwirrten Proleten, dessen Verlust der inneren Mitte und des sozialen Haltes ihn in die Nähe Wladimirs und Estragons Becketts rückt und gradezu sympathisch macht. Die blinde Rosanne von Ilona Knobbes will von Dessau nach Paris, um dort Garderobenfrau in einem berühmten Nachtclub zu werden und wird als eine kraftvoll komisch-melancholische Schreckschraube vorgeführt. Schließlich singen diese kleine Gruppe Sozialismusasylanten statt der angekündigten Versteigerung des Bahnhofsinventars trotzig und falsch einige bekannte Arbeiterkampflieder, ein Regieeinfall, was ihre Wartezeit zwar weder verkürzt noch ändert, sondern den bisßlang geduldig morschen "Boden" über ihren Köpfen endgültig zum Einsturz bringt, nachdem schon vorher vier Stützbalken während ihres Spiels umgerissen worden sind und zur "Decke" gingen.

Diese absichtsvoll zufällige deutsche Begegnung von fünf Personen voller gebrochener Ostklischees entbehrt sicher tieferer Glaubwürdigkeit und Psychologie. Doch gerade die Beschreibung des Unzusammenhängenden, des gestörten Sinnzusammenhanges, die unsäglichen, kleistschen Brüche der Figuren sind vielleicht das Beste des Stücks, da es in sich die Hoffnung aufhebt, daß nicht zusammenwuchert, was nicht zusammengehört. Letztlich klingt die Implosion sozialer Utopie in Kosters NACHKLANG wie eine müde Sammlung verzweifelter Kalauer. Am Ende tragen sie alle wie Atlanten bzw. Karyatiden die zusammenbrechende Bahnhofsdecke, ein zu utotisch-optimistisches Ende, denn unsere Wirklichkeit hat solche Widerästandskämpfer gegen die euphorisch Wiedervereinigung genannte deutsch-deutsche Annexion längst erschlagen.

Tags darauf im TheaterBahnhof die Uraufführung VESPERS REISE von Manfred Weber, der sich von Bernward Vespers postum erschienen autobiographischen Romanfragment DIE REISE hat anregen lassen, welches Innenansichten der RAF bietet und bestürzendes Interesse auslöste. Heute, zwanzig Jahre nach den turbulenten Ereignissen vom Herbst 1977 bietet die Flugzeugentführung von Mogadischu, die mysteriös zu Tode gekommenen Terroristen von Stammheim und der Mord am Arbeitgeberpräsidenten Schleyer eine fulminante Vorlage für ein deutsches Drama zwischen der Staatsräson und den Rechten des Individuums, zumal die diesjährigen Kleist-Festtage unter der Frage nach "Recht und Gerechtigkeit" standen. Wer die Geschichte des Bernward Vesper erzählt, der in Frankfurt an der Oder als Sohn eines patriachalischen Vaters und bekannten nationalsozialistischen Blut- und Bodendichters geboren wurde und während seines Studiums in Tübingen Gudrun Ensslin kennenlernte, hat einen spannenden Stoff. Gemeinsam werden sie in Berlin von der 68er Studentenbewegung geprägt, bis Gudrun Ensslin nach dem Mord an Benno Ohnsorg in den politischen Untergrund des Terrorismus abtauchte. In einer Hamburger Nervenheilanstalt beging Bernward Vesper 1971 Selbstmord, zerrissen zwischen Vater und Frau.

Manfred Weber hat ein großartiges Material gefunden, aber kann es nicht entsprechend nutzen. Nach seiner literarischen Idee schickt er den fiktiv überlebenden Vesper auf die Suche nach seiner einstigen Lebensgefährtin Gurdun Ensslin auf eine Reise, weil dieser vermutet, daß sie ebenfalls am Leben und aus Stammheim ausgebrochen ist und durch die DDR bei Frankfurt an der Oder als RAF-Aussteiger eine neue Biographie verpasst bekam. Doch den Autor interessieren die Ideen mehr als Menschen. Webers Traumspiel wird leider eine reine Gedankenreise und gehört somit dem "Unsichtbaren Theater" an. Er bemüht außer den biographisch authentischen Figuren Hölderlins Antigone, Kreon sowie Jean d'Arc und überfrachtet damit sein Stück zu einer papiernen Kontemplation. Beim der freundlichsten Nachsicht bleibt unverständlich, daß man sich an seinem Haus nicht schützend gegen ein so geformtes Projekt gestellt hat. Diesem geistigen Höhenflug wird beim besten Willen das Frankfurter Publikum kaum folgen, die unsägliche Larmoyanz seines Helden niemand drei Stunden lang ertragen wollen.

Intendant Manfred Weber übernahm auch Regie und obwohl er bis zur Premiere am Text gefeilt und sein Stück um einige der letztlich 21 Szenen gekürzt hat, kommt der fiktive Vesper auf seiner Reise in der Gegenwart nicht an. Olga Lunow schuf als Simultanbühne einen Gedankenraum, der hauptsächlich aus Pfeilern und Tüll besteht und die Kostüme. Die fünf Darsteller kämpfen sich tapfer durch fast zwei Duzend fleischlose Rollen und ihre Einsatz nötigt Bewunderung ab, insbesondere Torsten Spohn als Hauptdarsteller Vesper und Gerhard Reich in diversen Vater-Rollen.

Kurz: Statt spannendes RAF-Drama die Verklärung eines alten Werbeslogans: "Alle reden vom Wetter" - sprich: bestürzendes Desinteresse, leider.


Carl Ceiss in "Theater der Zeit" 1/2 1998

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