ANDERE PERSPEKTIVE AUF EINEN MONOLITH

Lange in der Theaterlandschaft verschollen, grub das Orphtheater zu den Berliner Festtagen 1997 innerhalb der "Deutschlandbilder" im Kunsthaus Tachles das Stück "DER FINDLING" von Ernst Barlach aus, welches seit seiner Uraufführung im Jahre 1928 in Königsberg nicht wieder gespielt wurde, weil es für die unspielbare dramatische Vision eines Expressionisten galt.
In dem 1922 entstandenen Werk geht es dem Mystiker Barlach in seiner knorrigen Eichenholzsprache um eine in Unflat und Ekel versinkende Welt, in der ein jungen Paares den Mut zu ihrer Liebe findet und ein verkrüppeltes, ekliges Findelbalg aus dem Straßen-graben fischt und es annimmt. Doch durch diese Annahme verwandelt sich das widerliche Wechselbalg in ein leuchtend schönes Wesen, offenbar den Erlöser von allem Übel.
Susanne Truckenbrodts radikale Inszenierung sucht nach dem gegenwärtigen Gehalt des Dramas, ohne die metaphysischen Höhen Barlachs auszutreiben. Sie verwandelt Barlachs FINDLING aus einem nord-deutschen spökenkiekerischen Mysterienspiel in eine archaische Endzeitparabel, indem sie den Kampf der Hungernden der Landstraße um den Fleischkessel in den Mittelpunkt stellt und die Szenen und Figuren noch weiter monolithisch komprimiert und chorisch und chorographisch rhythmisiert.
Den Kultraum für die kleine Barlachgemeinde sowie die zeitlos erdfarbenen Kostüme schuf Holger Syrbe. Auf der Bühne des armen Theaters ist im Vordergrund der im Halbkreis angeordneten Zuschauertribüne, direkt vor den Füßen ein stählerner Fleisch-kessel als Altar mit Feuerstätte und Kerzen. Fern, fast an der fabrikmauerkalten fahlen Wand gegenüber den Zuschauern hängt über den Köpfen am Ende eine Wiege für den FINDLING, stimmungsicher von Henning Strecks Lichtgestaltung beleuchtet.
Das verschworene Orphtheaterensemble Katja Salm, Katheen Monden, Antje Görner, Uwe Schmieder, Matthias Horn und Wolf Scheidt spielt die rund 26 Rollen mit herausragend beklemmender Intensität und Kraft in blutrot und erdschlammartig geschminkten Masken und Haaren, die das Elend der Ausgestoßenen auf der Landstraße, ihren Hunger, ihre Gier, ihre menschliche Verkrüppelung mit höchster Authentizität erfahrbar macht. Hammerschläge des Steineklopfers bilden jene Szenenzäsuren, die die anderen Figuren jeweils zu Boden werfen, brutal auf den kalten Beton. Kontrastreich sensibel dabei das Spiel mit den herrlichen Puppen von Berbo Thierfelder, welche sich organisch in die Handlung einfügen.
Zuschauer, welche auf filigrane psychologische Begründungen der Figuren, auf Einfühlung hoffen, werden gewiss verstört. Der Abend widersetzt sich allgemeinen unverbindlichem Zeitgeschmack, hier wird man mit unserer gewalttätigen Gegenzeit konfrontiert. So findet das Orphtheater im lange verschollenen FINDLING eine grundsätzliche andere Interpretation des Barlachschen Werks, einen neuen Ansatz, frei von kunstgewerblichen Holzschnitzhandwerk, wild und in der Dimension archaischer Gewalt antiker Dramen.
Inzwischen auf die viel kleinere Spielstätte im Prenzlauer Berg umgesetzt, ist diese sensationelle Theaterarbeit jedem empfohlen, der im abendlichen Kulturdschungel noch einen Aufführungsterim entdeckt.


Carl Ceiss (Erstveröffentlicht im Internet, 2000)

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