Das Theaterwunder von Neukölln

"Endstation Neukölln" titelte der Spiegel neulich. Aber die Bewohner dort wollen ihre Ehre wahren: " Wir sind hier nicht der letzte Dreck!" Die Groß-stadt Neukölln, ein Stadtbezirk mit überdurchschnittlichen Anteil von Sozialhilfeempfängern und Ausländern in der Bevölkerung gilt als eine soziale Bronx inmitten der neuen Hauptstadt Berlins, verwahrlost, gewalttätig, drogenkrimminell und grau, direkt auf dem Abstieg in ein explosives Gettho. Mittendrin in der Karl-Marx-Straße spielt die Neuköllner Oper die Urauführung ihres Stücks DAS WUNDER VON NEUKÖLLN von Peter Lund, eine Sozialkomödie mit Musik von Wolfgang Böhmer, die diese Klischees theatralisch überhöht. Vom Plakat des Stücks rotzt uns ihr Motto an: "Ein Kind kannst du jeden Tag kriegen. Einen Job nicht."

Die Kassiererin Janine Majowski ( gespielt von Christine Rothacker ) aus Neukölln verliert ihren Job im Supermarkt, als sie schwanger wird. Ihr Freund, ein Sozialhilfempänger und Looser möchte, daß sie es wegmacht, aber sie trennt sich lieber von ihm. Von ihrer Familie kann sie auch nichts erwarten, der Vater sitzt seit Jahren gelähmt im Rollstuhl, die Mutter ( Silvia Bitschkowski ) ist sozial völlig inkompetent und rafft nichts, raucht Kette trotz Lungenkrebs, der jüngere Bruder ist sexzentriert und schwul. Zu allem Unglück wird das Kind schwerstbehindert mongoloied und mit Herzfehler geboren. Da will sich Janine Majowski umbringen, doch der Journalist Johannes Fonfara ( Gerd Lukas Storzer ) und dessen Freundin retten sie eher zufällig. Er leiert über das Fernsehn eine Spendenaktion an, die auf einen Schlag über hundertausend Mark zusammenbringt. DAS WUNDER VON NEUKÖLLN beginnt, das Unglück kann vermarktet werden in dieser perfieden Medienwelt. Alles wird gut und glücklich, zumindest in den sich immer mehr von der Realität entfernenden Berichten über die unglückliche Mutter. Zum Christkind grorifiziert, bewirkt eine Locke des schwerstbehiderten Babys Wunder, sein Vater und andere bekommen Arbeit, selbst der Lungenkrebs der Mutter verschwindet, sie schmettert Coloraturarien - und stirbt zeitgleich im Urban-Krankenhaus. Für schlagende Komik und anrührende Tragik ist gesorgt, doch da es sich um eine Komödie handelt, stirbt das Kind erst nach dem Stückende.
Zwischen beleuchetem Aquarium und Drehschirmlampe findet dieses Wunder statt, im Rahmen ausgeblichener großgemusterter Kleinbürgertapete, das Bühnenbild von Dirk Immich zitiert ästetische Zumutungen fast zu naturalistisch. Und auch die Kostüme von Susanne Suhr könnten direkt aus einem Container für Altkleider stammen, so impertinent geschmacklos sollen sie ihre Figuren charakterisieren, wirken dabei teilweise einengend eindeutig.
Wolfgang Böhmers flotte Musik scheint trotz einiger populärer Zitate so ambitioniert, daß wirkliche einfache Melodien und Hits nicht entstehen a la , aber dem Unternehmen den notwendigen Schwung verleihen.
Genau ausbalanciert von Regisseur Bernd Mottel zwischen Brechts Aufklärungs- und in der Tradition des Berliner Singspiels, dem scharfen Witz der Berliner Schnautze, sozialsentimentalen Trash und ironisch feiner Überhöhung zugleich. Bis auf kleine Längen nach der Pause bestes Volksteater. Das Publikum amüsierte sich bei diesem Weihnachtsspiel für Erwachsene wie Bolle.
Wenn DAS WUNDER VON NEUKÖLLN auf Grund seines brisanten Sujets Arbeitslosigkeit & ihre Folgen und der unterhaltsamen Machart an anderen Theaterorten mit leicht verändertem geographischen Kolorit und Titel auftauchen würde, würde mich das nicht wundern.


Carl Ceiss (Erstveröffentlicht im Internet, 2000)

 

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