Mumienschändung

Zu DIE JUDITH VON SHIMODA in Wien, 2008

Es erscheint spektakulär, dass wir Nachgeborenen die Uraufführung eines Stücks von Bertold Brecht über ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod erleben dürfen. Zu verdanken ist es dem Bearbeiter Hans Peter Neureuter, der eine Spielfassung von Brechts 1940 im Exil entstandenen Fragment mit neu aufgefundenen finnischen Material rekonstruiert hat. Der bei seinem Publikum sehr beliebte Intendant des Theaters in der Josephstadt in Wien, Herbert Föttinger, gelang den Coup, sich die Rechte der Welturaufführung zu sichern. Zuvor hatte Claus Peymann am Berliner Ensemble das bisher bekannte Fragment uraufgeführt. Die Inszenierung gab er in die Hände des auch in Berlin durch sein langjähriges Wirken bestens bekannten Schauspieler und Regisseur Heribert Sasse.
Mit der apokryphen Novelle der Alttestamentarischen jungen Witwe Judit die sich zur Hure den babylonischen Feldherrn und Gewaltherrschers Holofernes macht, hat Brechts Adaption des beliebten Dramenstoffs nur wenig gemeinsam. Jene schlägt dem Feldherrn von Nebukadnezzar den Kopf ab, um ihr jüdisches Volk aus höchster Not zu retten, da die Männer zu entschlossenem Handelen nicht fähig sind. Brechts Judith von Shimoda, die Geisha Okichi, dient im Hause des amerikanischen Konsuls, ebenfalls um ihre Vaterstadt zu retten. Die Gesellschaft verlangt von ihr dieses Opfer, ist aber nicht fähig, ihr später diese Heldentat zu vergeben. Ihr weiteres Leben ist vergiftet, ihre Ehe verbricht, Okichi wird Alkoholikerin und stirbt am Ende verarmt und verbittert. Die apokryphe Judit dagegen feiert am Ende triumphal ihren Mord und ist gewiss, das ihr Volk über die verhassten babylonischen Feinde siegt. Brechts Variante wird vor dem Hintergrund des bereits tobenden zweiten Weltkriegs und der Shoa erklärbar, aber was kann uns dieses Fragment heute erzählen?
Leider nimmt die Qualität des Stückes kontinuierlich ab, während am Anfang erkennbar Brechts bearbeitendes Genie waltet, scheint ihn das Werk bald nicht mehr interessiert zu haben. Der zweite Teil der JUDITH VON SHIMODA verflacht zu einer durchschnittlichen rührseligen Tragödie seiner nicht zur Weltliteratur zählenden Mitarbeiterin. Zu diesem schweren dramaturgischen Missgeschick, das dieses Stück sich nicht steigert, sondern abfällt, kommt noch der unglückliche Gedanke Brechts, mit vier als Zuschauern getarnten Kommentatoren und einem Regisseur die Geschichte erklären zu wollen. Doch nichts, was von den handlungslosen Figuren gesagt wird, kann tatsächlich erhellender sein als das Bühnenspiel. Der Zuschauer hat das Spiel verstanden und langweilt sich über soviel Redundanz, die auch eine Verachtung seiner Rezeptionsfähigkeit ist.

Zu allem Unglück beharrt der tatsächliche Regisseur Heribert Sasse, der auch den Regisseur im Stück mimt, darauf, das Stück unverfälscht vom Blatt zu inszenieren und sich vasallentreu an den Text zu halten. Was ansonsten ja rühmlich wäre, den Autor beim Wort zu nehmen und nicht klüger zu sein, gerät hier zum völligen Desaster. Wäre Bert Brecht in die missliche Lage geraten, seine Bearbeitung inszenieren zu müssen, hätte er gewiss kräftig in sein Werk eingegriffen zugunsten von Aktualität und Theaterspaß. So langweilt sich das Publikum mit diesem abgestandenen Brei im Theater an der Josephstadt, einem Haus, an dem Brecht Jahrzehnte lang tabu war und fragt sich, weshalb. Ohne Brechts Methode des dialektischen Denkens und Inszenierens wird hier eine Mumie geschändet.
Sich an den hübschen Kostümen zu erfreuen und an den etwas zu kompliziertem Bühnenbild, reicht für diesen Abend nicht aus.

Carl Ceiss, 09/2008 (unveröffentlicht)


Alle Rechte beim Autor. Kontakt

Zurück zur Startseite: http://www.ceiss.de